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Nichtlineare, interaktive Erzählweise

Hintergrund

Traditionell haben Geschichten meist exakt einen Anfang, ein Ende und einen einzigen Handlungsstrang dazwischen. Bei Kurzgeschichten ist der Anfang häufig willkürlich oder bei einem Schlüsselerlebnis des Protagonisten gewählt und endet ebenso willkürlich mit einen „offenem“ Ende, das der Phantasie des Lesers viele Endmöglichkeiten läßt.

Besonders mit Adventure- und Rollenspielen gewinnt seit den 80er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die nichtlineare Erzählung an Bedeutung: Entscheidungen des Spielers verzweigen den Handlungsstrang, es gibt viele kleine parallele, optionale Handlungsstränge (Nebenquests), welche vom Spieler verfolgt werden und unter Umständen auch den Haupterzählungsstrang beeinflußen. Bei Rollenspielen wirken sich die Handlungen des Spielers auch darauf aus, wie er vom Erzählsystem bzw. den Nichtspieler-Charakteren wahrgenommen wird. Häufig basiert diese Wahrnehmung auf ethischen Grundsätzen- der Spieler hat ein gutes oder böses Karma, das seine Handlungsmöglichkeiten auch beschränken kann.

Seit den immer textbasierten MUDs (Multi User Dungeons) interagieren mehrere Spieler in solchen „Erzählwelten“ und folgen einem vom „Game/Dungeon-Master“- einer Art „Regisseur“ oder Deus Ex Machina und einem Erzähl/Regelwerk vorgegebenen Handlungssträngen unter Nutzung der technischen Möglichkeiten des Internet. Im Theater hat improvisiertes Rollenspiel natürlich eine viel ältere, bis in die Antike zurückreichende Tradition.

Die Geschichten hier

Alle Geschichten hier haben einen Anfang, eine Art Keimzelle für beliebige Handlungsstränge. Die Geschichte wächst linear, organisch wie ein Baum, indem Autoren Handlungsstränge verzweigen, neue beginnen oder sogar Varianten entwickeln. Die Realität ist ambivalent- sie wird von den Protagonisten und den Autoren dahinter individuell wahrgenommen. Technisch bietet dieses Wiki die Möglichkeit, mehreren Versionen des gleichen Handlungsstrangs weiter zu folgen- es gibt keine absolute Wahrheit oder Ereignisse von absoluter Bedeutung. Die „Keimzelle“ der Geschichte ist (hoffentlich) ein guter Nährboden für möglichst viele, ganz unterschiedliche Handlungsstränge. Wenn Du meinst, daß das nicht gelungen ist, ändere sie halt einfach ab bzw. erstelle eine neue Variante.

Ein Beispiel

Als Beispiel für die Subjektivität der Wahrnehmung und ihrer Auswirkung auf Handlungsstränge einer Erzählung zitiere ich einen meiner Lieblingsautoren, Terry Pratchett. (Dies ist der Beginn meines Terry-Pratchett- Scheibenwelt- Lieblingsromans „Der Zeitdieb“).


Nach der Ersten Schriftrolle des ewig überraschten Wen trat Wen aus der Höhle, in der er Erleuchtung erfuhr, in die Morgendämmerung des ersten Tags vom Rest seines Lebens. Eine Zeit lang beobachtete er die aufgehende Sonne, denn er hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Mit der Sandale stieß er seinen dösenden Schüler Tolpatsch an und sagte: »Ich habe gesehen. Jetzt verstehe ich.«

Dann zögerte er und betrachtete das Etwas neben Tolpatsch. »Was ist das für ein erstaunliches Ding?«, fragte er.

»Äh … äh … das ist ein Baum, Meister«, erwiderte Tolpatsch, der noch nicht richtig wach war. »Erinnerst du dich? Er war gestern auch hier.«

»Es gab kein Gestern.«

»Äh … äh … ich glaube doch, Meister«, sagte Tolpatsch und stand mühsam auf. »Weißt du noch? Wir kamen hierher, und ich habe eine Mahlzeit zubereitet, und ich habe die Rinde von deinem Sklang gelöst, weil du sie nicht wolltest.«

»Ich erinnere mich an gestern«, murmelte Wen nachdenklich. »Aber die Erinnerung steckt jetzt in meinem Kopf. Existierte das Gestern wirklich? Oder ist nur die Erinnerung daran real? Wahrlich, ich wurde nicht gestern geboren.«

Tolpatschs Gesicht verwandelte sich in eine Grimasse, die schmerzliches Unverständnis zum Ausdruck brachte.

»Lieber dummer Tolpatsch, ich habe alles gelernt«, sagte Wen.

In der hohlen Hand gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft. Es existiert nur das Jetzt. Es gibt keine andere Zeit als die Gegenwart. Wir haben viel zu tun.«

Tolpatsch zögerte. Sein Meister hatte etwas Seltsames an sich. In seinen Augen glühte es, und wenn er sich bewegte, leuchtete die Luft um ihn sonderbar silbrig-blau, als reflektierten flüssige Spiegel.

»Sie hat mir alles gesagt«, fuhr Wen fort. »Ich weiß, dass die Zeit für die Menschen geschaffen wurde, nicht umgekehrt. Ich habe gelernt, sie zu formen und zu biegen. Ich weiß, wie man einen Moment ewig währen lassen kann, denn das ist bereits geschehen. Und ich kann diese Fähigkeiten selbst dir beibringen, Tolpatsch. Ich habe den Herzschlag des Universums gehört. Ich kenne die Antworten auf viele Fragen. Frag mich etwas.«

Der Schüler sah ihn verschlafen an. Es war zu früh am Morgen, um früh am Morgen zu sein. Nur das wusste er mit absoluter Gewissheit.

»Äh … was möchte der Meister zum Frühstück?«, fragte er.

Wen blickte von ihrem Lager über die Schneefelder und purpurnen Berge zum goldenen Tageslicht, das die Welt formte, und dachte dabei über gewisse Aspekte des menschlichen Wesens nach.

»Ah«, sagte er. »Eine der schweren Fragen.«

Damit etwas existiert, muss es beobachtet werden. Damit etwas existiert, muss es eine Position in Raum und Zeit haben.

Das erklärt, warum neun Zehntel der Masse des Universums unbekannt sind. Neun Zehntel des letzten Zehntels.

Jedes Atom hat seine Biographie, jeder Stern seine Akte, jede chemische Wechselwirkung ihr Äquivalent eines Inspektors mit einem Klemmbrett in der Hand. Sie alle sind deshalb unbekannt, weil sie für die Verwaltung des Rests zuständig sind, schließlich kann man nicht die Rückseite des eigenen Kopfes sehen.

Neun Zehntel des Universums bestehen aus Bürokratie.

Und wenn man die Geschichte möchte, so sollte man bedenken, dass sich eine Geschichte nicht entwickelt, sondern entfaltet. Ereignisse, die sich an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten zutragen, zielen alle auf einen Punkt in der Raum-Zeit, auf den perfekten Moment.

Angenommen, ein Kaiser wird dazu überredet, neue Kleider aus einem so feinen Stoff zu tragen, dass die Kleidung für das gewöhnliche Auge unsichtbar bleibt. Und angenommen, ein kleiner Junge weist mit lauter, klarer Stimme darauf hin …

Dann hat man eine Geschichte, die man »Des Kaisers neue Kleider« nennen könnte.

Aber wenn man ein wenig mehr wüsste, so hätte man die Geschichte vom Jungen, der von seinem Vater eine ordentliche Tracht Prügel und außerdem Stubenarrest bekam, weil er dem Kaiser gegenüber unhöflich war.

Oder die Geschichte von der Menge, die von Wächtern umringt wurde und zu hören bekam: »Dies ist nicht passiert, klar? Möchte jemand widersprechen?«

Es könnte auch eine Geschichte darüber sein, wie ein ganzes Königreich die Vorzüge der »neuen Kleider« erkennt und Spaß darin findet, in einer lebhaften, erfrischenden Atmosphäre gesunden Sport zu treiben, der jedes Jahr neue Anhänger findet und eine Rezession bewirkt, ausgelöst von einer Pleitewelle in der konventionellen Textilindustrie.

Denkbar wäre sogar eine Geschichte über die große Lungenentzündungsepidemie von '09.

Es hängt davon ab, wie viel man weiß.

Angenommen, man hat die langsame Ablagerung von Schnee beobachtet und im Verlauf von Jahrtausenden gesehen, wie das Weiß immer kompakter wurde und über die Felsen in die Tiefe glitt, bis der Gletscher schließlich Eisberge ins Meer kalbte.

Und dann sah man, wie einer dieser Eisberge durchs kalte Wasser glitt, mit einer Fracht aus fröhlichen Eisbären und Seehunden, die sich auf ein interessantes neues Leben in der anderen Hemisphäre freuten, wo das Treibeis angeblich mit leckeren Pinguinen überzogen war. Und dann machte es plötzlich Wamm! Die Tragödie kam in Form von Tausenden Tonnen völlig unerwartetem Stahl und einem aufregenden Soundtrack …..


Andreas Gryphius
  Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen.
  Mein sind die Jahre nicht, die etwa mögen kommen.
  Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in Acht,
  so ist der mein, der Zeit und Ewigkeit gemacht. 
Ludwig Wittgenstein
  Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, 
  dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.

Und wer wissen will, wie und warum die obigen Mystiker zu diesen Aussagen kamen, der sollte einmal das Motto dieser Site lesen:

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