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Erstarrung

Franz Marc, Kämpfende Formen, 1914, gemeinfrei

Ich stehe in in einer hügeligen Winterlandschaft ohne erkennbaren Pflanzenbewuchs. Die Gegend scheint auch nicht bewohnt zu sein - außer Steinen, Eis und Schnee ist zuerst wenig zu erkennen. Ein leichter Wind wirbelt den pulvrigen Schnee auf und dieser vermischt sich mit dem allgegenwärtigen Nebel, der die Wahrnehmung stark begrenzt. Das Licht ist diffus, eine helle, graue Wolkendecke bedeckt den Himmel und es gibt auch nichts, was Schatten werfen könnte.

Ich erkenne, dass ich im Halbschlaf bin, im Schlafzimmer ist es heiß und etwas stickig, ich schwitze äußerlich aber ich spüre die frostige Atmosphäre dieser Winterlandschaft dennoch stärker. Die durch den leichten Wind aufgewirbelten Schneekristalle brennen auf der Haut, schmelzen und lassen nasskalte Tropfen zurück, die auf der nackten Haut Rinnsale bilden und die Kälte durch Nässe noch unangenehmer machen.

Ein deutlicher, aber erträglicher Druck knapp oberhalb des Bauchnabels lässt mich die Nähe des Kinds spüren. Ich weiß jetzt, dass ich hier bin, um das Kind zu finden und folge so dem stärker werdenden Druck. Ich stapfe durch den Pulverschnee in eine vor mir liegende Senke und kann jetzt durch den Nebel und den aufgewirbelten Schnee etwas sehr hohes, Dunkles vor mir aufragen sehen.

Als ich es erreiche, erkenne ich vage eine Bruchstein -Mauer, die aber in geringer Entfernung gar nicht künstlich wirkt. Direkt vor ihr stehend ist aber die Regelmäßigkeit zu erkennen, mit der die Steine aufeinander gesetzt und einer Art weißem Mörtel verfugt wurden. Ich weiß, dass ich durch oder über diese Mauer gelangen muss um das Kind zu erreichen und suche nach einer Tür oder einem Durchgang. Ich finde zwar keine Tür aber eine Art Rampe aus glitschigem Eis, welche bis zur Mauerkrone empor ragt.

Nach einigen Ausrutschern finde ich genug Halt auf der Rampe, um bis zur Mauerkrone hochzukriechen und die Eiseskälte geht mir durch Mark und Bein. Auf der anderen Seite der Mauer erstreckt sich eine Art See, der durch die Mauer aufgestaut wird, der aber weitestgehend zugefroren ist. Ich frage mich, ob diese Mauer noch halten würde, wenn das Eis schmilzt, denn ich erkenne nun, dass was ich für den Fugenmörtel hielt, auch nur Eis ist.

Paradoxerweise ist der runde See auch nicht glatt, er scheint sich zur Mitte hin trichterförmig zu vertiefen. Ich spüre, dass mein Ziel - das Kind - irgendwo unten in diesem Trichter zu finden sein muss, stelle mir aber die bange Frage, ob ich aus diesem Trichter jemals wieder entkommen könnte, wenn ich da hinunter rutschen würde.

Doch ohne etwas dagegen tun zu können, rutsche ich bereits ins Zentrum und falle in einen Hohlraum unter dem Eis. Zu der mich nun völlig durchdringenden Kälte gesellt sich ein stärkeres Bauchdrücken und so weiß ich, das ich mein Ziel erreicht habe.

Ich befinde mich in einer recht kleinen runden Kammer, einem Dom aus Eis und zerbröselten Bruchstein- Mauerresten. In der Mitte ist eine Art Sockel oder Stalagmit, auf dem das Kind liegt.

Es lieg nackt und zusammen gekrümmt auf der Seite und hält sich den Bauch, von ihm gehen die Bauchschmerzen und intensive Kälte aus, die auch mich ganz durchdringen. Über dem Kind ist aber ein roter Baldachin, wohl zu dem Zweck, das Kind zu schützen. Von der Decke des Eisdomes lösen sich Tropfen und verdampfen auf diesem Baldachin oder bilden Rinnsale, die an der Seite herab tropfen um dort wieder zu gefrieren und weitere, kleine Eis-Stalagmiten zu bilden.

Bei näherem Hinsehen entpuppt sich der rote Baldachin als Schwingen eines roten Drachens, der das Kind schützt. Dampf steigt aus den Nüstern des Drachens und mir wird klar, dass er die Macht hätte, das ganze Eis hier mit seinem Feuerodem zu schmelzen. Der Drache ist aber intelligent genug, um zu erkennen, dass das Kind dann in Wassermassen ertrinken würde und mit dem Brechen des maroden Staudamms diese ganze kleine Welt samt ihren Bewohnern vernichtet wäre.

Ich sehe in seine bernsteinfarbenen Augen und erkenne seine Verzweiflung und sein Dilemma. Ich erkenne auch, das er hier alt und schwächer geworden ist und bald vielleicht nicht einmal die Kraft haben wird, das Kind mit seinen Schwingen vor dem umgebenden Eis zu schützen. Seine Augen flehen mich um Hilfe an, aber ich bin ratlos, denn ich stecke nun selbst in dieser Zwickmühle fest und sehe keinen Weg aus diesem Eisgefängnis zu entkommen.

Ich wende mich dem Kind zu, dass mich bisher immer noch nicht wahr zu nehmen scheint und auch sonst keinerlei Regung erkennen lässt. Eine kleine Katze liegt bei dem Kind und versucht auch, ihm ohne rechten Erfolg etwas Wärme zu geben, aber das Kind reagiert auch darauf nicht. Tränen fließen aus seinen leeren Augen und bilden kleine Rinnsale, die auf dem Boden gleich wieder gefrieren. Es ist, als ob das ganze Eisgefängnis aus den in vielen Jahren gesammelten Tränen des Kindes bestünde.

Obwohl sein Blick ausdruckslos und leer ist, hat er etwas durchdringend Anklagendes. Sein Blick scheint zu sagen: „Warum quält ihr mich immer weiter? Warum lasst ihr mich nicht endlich sterben?“

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