Parvaaneh
Parvaaneh [persisch: Schmetterling] nahm den schweren Tonkrug vom rohen Holzschemel in der Ecke ihrer Hütte und ging zur Tür. Bevor sie diese öffnete, richtete sie ihre Burka und achtete besonders darauf, daß das türkisfarbene Seidentuch, welches Mund und Nase bedeckte, nicht mehr verrutschen konnte.
Dies geschah nicht wegen der guten Sitten, hier in der Oase war niemand so streng und außer ein paar anderen Frauen und den Mönchen des kleinen Sufi-Klosters, daß draussen in der Wüste lag, gab es hier nicht viele Menschen, welche sie an diesem frühen Morgen hätten sehen können. Nein, draussen war es zu dieser Tageszeit immer sehr windig. Die aufgehende Sonne vertrieb die kalte Nachtluft, die große Mengen des feinen roten Sands der Wüste Kysylkum mitriß, welcher in kürzester Zeit Mund und Nase verstopfen konnte und beißend in den Augen brannte.
Die leichte, feine Seide schmeichelte ihrer Haut und konnte den stechenden Schmerz verhindern, der unvermeidlich war, wenn die scharfkantigen Sandkörner Parvaanehs zarte Gesichtshaut direkt berührten. So war sie gut vorbereitet, als sie ihre Hütte verließ und sofort wie erwartet Millionen winziger roter Kristalle mit dem Bestreben ihre Haut zu zerfetzen, auf sie einstürmten. Nur die geschmeidige und doch feste Seide setzte sich dem Ansturm entgegen, war aber im Nu mit einer dünnen kristallinen Schicht bedeckt, welche der Seide ihren Glanz nahm und die feine Burka fühlte sich außen bald so rauh und kratzig wie jener rohe Wollstoff an, aus welchem die Sufis ihre Mönchsroben webten.
Die seidene Burka war ein Geschenk von Barzin [persisch: Feuer], einem jungen Händler und Abenteurer, der mit einer Karawane durch die Wüste zog, um Seide und Porzellan aus Samarkand ins nahe Buchara oder gar bis nach Teheran zu bringen. Seinen Erzählungen nach war der Abenteurer aber auch nach Westen schon bis nach Bagdad gereist und war im Osten gar durch die gefürchtete Wüste Taklamakan bis nach Dunhuang im großen Kaiserreich gelangt.
Seine reich ausgeschmückten und mit blumigen Worten und glühenden Augen vorgetragenen Geschichten, in der er selbst stets der größte Held war, der ganze Räuberbanden nur mit einem Dolch bewaffnet besiegte und nur mit den höchsten Beamten des Kaiserreichs oder den Sheiks persönlich verhandelte, mußte man natürlich in Zweifel ziehen. Ohne Frage war er recht erfolgreich und konnte Parvaaneh mit wertvollen Geschenken wie dieser Burka, die im fernen Pakistan angeblich nur Prinzessinnen trugen, verwöhnen.
Das reichte, um viel Neid bei den anderen Frauen in der Oase aufkommen zu lassen, was Parvaaneh stolz in Kauf nahm. Ernsthaft etwas anhaben konnten Ihr die anderen Frauen aber nicht, denn hier lebten alle von der Gunst der Händler und Reisenden, welche diesen Teil der Seidenstrasse passierten und den Vorwurf der Sittenlosigkeit müßten sich alle- nicht nur die Frauen- gefallen lassen, wenn ein Sittenrichter gerufen würde.
Die Mönche, welche eigentlich hier waren, um den Gesetzen des Islam auch an diesem abgelegenen Ort zur Geltung zu verhelfen, legten den Koran etwas eigenwillig zu ihrem Gunsten aus und waren des Nachts häufig bei einer der Frauen zu finden. Alle hier bildeten eine verschworene Gemeinschaft - einerseits weltoffen und tolerant, denn die Reisenden die hier durchkamen, gehörten den unterschiedlichsten Völkern und Glaubensrichtungen an, andrerseits schützten sie sich gegenseitig und in eigenem Interesse, wenn die Gefahr bestand, daß jemand an den hier herrschenden Verhältnissen etwas ändern wollte.
Parvaaneh hatte bei den Frauen auch deshalb ein hohes Ansehen, weil sie diskret aber doch für alle erkennbar mit dem Abt des Klosters verkehrte, der wohl der mächtigste Mann in dieser Einöde war. Durch sein ausgeglichenes, ruhiges Wesen, seine große Weisheit und nicht zuletzt eine Menge Humor und Lebensfreude war der Abt, der angeblich sogar noch dem Heiligen Abu_Bakr_al-Kalabadhi persönlich begegnet sein sollte, ohnehin sehr beliebt -wenn nicht sogar verehrt - und im Schutze seiner Aura genoß auch Parvaaneh zuviel Anerkennung, als dass jemand Anstoß an Ihrer Moral hätte nehmen können.
Wie auch immer, Parvaaneh hatte weitaus schlimmere Zeiten erlebt, bevor ihr Schicksal sie in diese Wüstenoase verschlug. Sie wuchs als Tochter eines reichen Seidenhändlers in Buchara auf und verlebte dort eine glückliche Kindheit, wurde aber noch als Kind mit dem Taugenichts von Sohn eines anderen reichen Händlers verheiratet, um das Familienimperium zu vergrößern. Als sie dann als junge Frau zur Familie ihres Manns zog, hatte sie nicht nur unter den Schikanen ihrer Schwiegermutter zu leiden, sondern auch unter den Schlägen des Ehemanns, den sie meist nur betrunken erlebte, sofern er sich nicht in Bordellen und Wirtshäusern herumtrieb. Für ihre Schwiegermutter war Parvaaneh an dem zerrüttetem Verhältnis schuld. Sie warf Parvaaneh ständig vor, sie könne gar keinen Mann glücklich machen- besonders nicht ihren Sohn. Diesen hatte sie über jedes vernünftige Maß hinaus verwöhnt und zu einem Paschah erzogen, der aber nun jede Hure der eigenen Ehefrau vorzog.
So blieb es bald nicht aus, daß Parvaaneh das Haus der Schwiegereltern verließ, um in ihr Elternhaus zurückzukehren. Dort war sie aber gar nicht willkommen, denn das hätte einen Skandal ausgelöst, welcher zu einer offenen Feindschaft der beiden Handelshäuser mit unabsehbaren Folgen führen können. Parvaaneh mußte also diskret an einen fernen Ort gebracht werden- nach offizieller Darstellung war ihre Seele krank und mußte in einem Frauenkloster geläutert werden. So verbrachte Parvaaneh einige Jahre in diesem Kloster, konnte sich aber nicht auf Dauer den strengen Verhaltensregeln dort beugen und galt als unverbesserlich ungehorsam, wenn nicht vom Teufel besessen. Als dann auch noch herauskam, daß sie sich heimlich mit einem Händler- eben jenem jungen Abenteurer Barzin- traf, war ihr Leben in Gefahr. Sie konnte der unvermeidlichen Steinigung nur dadurch entgehen, daß der nun ebenfalls verfolgte Barzin mit ihr über die Seidenstrasse flüchtete, bis er sie an diesem abgelegenen aber recht sicheren Ort zurücklassen konnte, um wieder seinen Geschäften nachgehen zu können.
Barzin liebte Parvaaneh immer noch, war durch seine Geschäfte aber nur selten bei ihr, was aber jedes Wiedersehen um so herzlicher machte und beiden die Freiheit ließ, die sie sich wünschten. Parvaaneh genoß die Unabhängigkeit und den relativen Wohlstand, den Barzin ihr ermöglichte, aber Barzin selbst suchte und brauchte das Abenteuer und die ganze Exotik der weiten Welt, die er bereiste. Irgendwann einmal würden sie sich vielleicht zusammen an irgendeinem fremden Ort- vielleicht sogar im großen Kaiserreich niederlassen- momentan wollten beide ihre Freiheit voll auskosten; wer weiß ob mehr Nähe ihrer Beziehung nicht sogar geschadet hätte.
Als Parvaaneh den Brunnen der Oase erreichte, wo bereits einige andere Frauen Wasser holten und den neuesten Klatsch austauschten, nickten die anderen, ebenfalls in dunkle, aber weniger prächtige Burkas eingehüllten Frauen ihr zu, verstummten aber. Es gab eine Distanz zwischen ihr und den einheimischen Frauen, die wohl nie ganz zu überbrücken war und durch Parvaaneh's gute Beziehungen und Neid sicher vergrößert wurde. Aber keine der Frauen würde es wagen, Parvaaneh Schwierigkeiten zu machen- denn sie hätte dadurch nur Nachteile oder unangenehme Konsequenzen zu befürchten.
Die anderen Frauen verließen den Brunnen und Parvaaneh konnte den Balg einer Ziege, der zum Wasser schöpfen diente, in den Brunnen hinab lassen. Dabei schaute sie verträumt in die rote Wüste, aus der eine ebenfalls noch blutrote Sonne aufstieg. Am flimmernden Horizont schien es Wasser und Dattelpalmen zu geben, aber diese trügerische Luftspiegelung zeigte nur ein Abbild der Oase, wenn die Sonne des Morgens begann, den Wüstenboden aufzuheizen.
Ihre Augen suchten in der Wüste nach einer Karawane, sie wußte aber, daß mit deren Eintreffen aber erst gegen Abend zu rechnen war. Mit dieser Karawane würde auch Barzin hoffentlich unversehrt eintreffen, der Seide aus Samarkand weiter nach Westen bringen mußte, wo er sie mit viel Gewinn verkaufen konnte. Parvaaneh hoffte inständig, daß er diesmal vielleicht ein paar Tage in der Oase verbringen könnte, bevor er mit dieser oder einer anderen Karawane weiterzog. Dieser Wunsch blieb aber meist unerfüllt, denn einerseits mußte Barzin seine Ware zügig liefern, damit ihm nicht andere Händler zuvor kamen und die Preise verdarben. Andererseits galt ihr Verhältnis natürlich selbst hier als unmoralisch und auch der Abt konnte sie nicht unbegrenzt vor den möglichen Intrigen von Neidern schützen, wenn sie nicht ein Minimum von Form wahrte.
In ihrer Sehnsucht und Tagträumerei merkte sie nicht, wie der Ziegenbalg ins träge Wasser des Brunnens klatschte und sich nun langsam füllte. Auch den nach wie vor beissenden Wind, der sie zwang, die Augen fast völlig zu schließen, damit wenigstens die Lider und Wimpern ihre schöne dunkelbraune Iris vor dem roten Staub schützen konnten, bemerkte sie kaum. An den Wind hatte sie sich bereits gewöhnt, der schmerzte sie nicht mehr. Der Schmerz ihrer Seele war schwerer zu lindern, denn er war stärker. Ständig war da auch die Angst, daß Barzin eines Tages nicht mehr wiederkommen würde. In seinen Geschichten war meist die Rede von Räubern und Assasinen und ein zu erfolgreicher Händler mußte auch viele Feinde haben- seine Geschäfte und vor allem Geschäftspartner waren manchmal mehr als fragwürdig und er kam dabei recht häufig mit dem Gesetz in Konflikt und konnte leicht das Opfer eines gedungenen Mörders oder habgieriger Räuber werden.
In ihrer Einsamkeit war sie über die gelegentlichen Besuche des immer ausgeglichenen Abts froh, dem sie für seelischen Beistand und ihr illegitimes Verhältnis zu Barzin mit sexueller Erleichterung dankte, was natürlich jeder wußte, aber niemand auszusprechen wagte. Was außer Ihr und dem Abt selbst wohl niemand wußte, war, daß der Abt sie in geheime Sufi-Rituale einweihte, was sicher ein größerer Sakrileg als nur der Beischlaf war, sollte es jemals herauskommen. Wer eine Hure in mystische Geheimnisse einweihte und sie so zu einer Hexe oder Magierin zu machte, konnte eigentlich nur ein Teufel sein, den man lebendig verbrennen mußte- niemand hätte das mehr verhindern können.
Der alte Sufi-Meister liebte Parvaaneh sicher nicht wie Gott, aber mehr als das eigene Leben. Trotzdem war er lebensfroh, nicht lebensmüde, aber seine Liebe galt dem ganzen beseelten Universum, mit dem er sich im Einklang fühlte gleichermaßen, seitdem er Erleuchtung erfuhr. Er hatte bald das Ende seines Weges auf dieser Welt vor sich, fürchtete sich davor nicht mehr, aber warum sollte er darauf verzichten, dies letzte Stück des Weges etwas komfortabler zu gestalten? Dies erledigte Parvaaneh nicht nur durch Zärtlichkeiten vorzüglich und er dankte es ihr mit der Unterweisung in ein paar harmlosen spirituellen Übungen, die ihr dabei helfen konnten, ihr Schicksal eträglicher machten, wenn sie einmal ängstlich oder unglücklich war- so wie jetzt.
Parvaaneh zog den nun wassergefüllten Ziegenbalg herauf und goß das Wasser in ihren Krug. Auf dem Weg zur Hütte riß der Wind weiter an ihrer Burka, die nun eine stumpfe, graue Farbe zu haben schien- so dick war die Schicht des rötlichen Staubs, der den schillernden Glanz des edlen Seidenstoffs verblassen ließ. Aber sie würde einen Teil des geholten Wassers verwenden, um das immer noch sehr schöne Gewand, daß sie täglich an ihren meist fernen Geliebten erinnerte, von dem allgegenwärtigen Staub zu reinigen.
Der Abt hatte sie gelehrt, wie sie auch ihre Seele vom Staub ihrer alltäglichen Last reinigen konnte- sie beherrschte diese Methode inzwischen jederzeit, gerade in der Eintönigkeit von so alltäglichen Aufgaben wie dem Reinigen ihres Körpers und ihrer Kleidung.
In der Hütte angekommen, zog sie die staubbedeckte Burka schon im Vorzimmer hinter der Tür aus, damit sich nicht noch mehr roter Staub in ihrer stets sauber gehaltenen Hütte verteilen konnte. Direkt hinter der Tür stand auch schon eine Schüssel mit einem nassen Schwamm darin, mit dem sie sofort Gesicht und Füße, die durch die Burka nicht vor dem Staub geschützt waren wusch. Die staubige Burka legte sie danach in die Schüssel und setzte sich auf den Schemel in der Nähe der Fensteröffnung, die meist durch dicke Läden verschloßen war, um tagsüber die Hitze, nachts die Kälte und sonst meist den Wind aus der Hütte heraus zu halten. In dem Fensterladen waren einige ovale, schlierige Glasscheiben eingelassen, sodaß wenigstens etwas Licht in die Hütte gelangte und Parvaaneh Arbeiten im Haus nachgehen konnte. Außerdem konnte sie so wenigstens schemenhaft erkennen, was in der Oase vor sich ging. Auch konnte niemand hinein sehen und Parvaaneh konnte sich unbeobachtet fühlen, egal was sie oder einer ihrer Besucher in der Hütte taten.
Nachdem sie sich gründlich gewaschen und die Burka im Waschwasser eingeweicht hatte, setzte sie sich nun völlig nackt im Schneidersitz auf ein Kissen, legte die Hände auf ihre Knie und achtete darauf, daß sie zwar ganz entspannt aber doch aufrecht genug saß, um frei und tief atmen zu können- eben so wie der alte Abt es sie gelehrt hatte. Sie richtete den Blick auf das Fenster, und konzentrierte sich mit halb geöffneten Augen ganz auf ihre Atmung- vor allem das Ausatmen. Genau wie das Sitzen mußte das aber ohne jede Anspannung und Verkrampfung erfolgen.
Sie durfte die Atmung nicht beeinflussen, sondern nur geschehen lassen, sich ihr dabei aber vollkommen bewußt sein. Der Abt hatte die Atmung mit dem Wind verglichen, der alles hier umgab, ihre Ängste und Nöte und sonstigen Gedanken mit dem Staub. Es galt nun, diesen Staub loszuwerden, indem sie ihn ausatmete. Wie der verletzende Staub draussen versuchte jetzt die Angst um ihren Geliebten von ihr Besitz zu nehmen, sie zum Grübeln zu bringen und so Furcht und Schmerz zu vergrößern- gleich einem spitzigen Steinchen im Auge, welches beim Verreiben den Schmerz nur noch vergrößerte und zu einer bleibenden Verletzung und vielleicht Blindheit führen konnte. Auch diese Analogie kannte sie vom Abt und wußte damit umzugehen.
Sie durfte sich nicht an ihre Gedanken klammern und von ihnen gefangen nehmen lassen. Sie mußte Gedanken, Ängste und Seelenschmerz kommen und gleich den Wolken roten Sands unbeteiligt vorbei ziehen lassen. Ihr Geist mußte werden wie die Seide ihrer Burka. Stabil, glatt und geschmeidig. Einatmen und den ganzen seelischen Unrat beim Ausatmen hinaus strömen lassen. So konnte sie nun täglich ihre Seele reinigen wie ihren Körper und ging frei und unbelastet die manchmal recht trostlosen Tage hier in der Wüste an.
Nach einigen Minuten stand sie auf und wusch die Reste des roten Staubs aus der Burka und drückte das restliche Wasser vorsichtig aus dem kostbaren, aber doch sehr stabilen Seidenstoff. Das Wasser sah aus, als wäre es sich von ihrem Blut gefärbt, ein leicht braunstichiges Rosa- der feine Sand würde sich aber bald am Boden der Schüssel absetzen und dieses Wasser könnte sie dann noch zum Putzen der Hütte verwenden. Die Seide der Burka sah im nassen Zustand noch beinahe schwarz aus und hatte noch keinen Glanz, der leichte Stoff würde aber bald trocknen und das Gewand würde wieder wieder fast wie neu aussehen, wenn ihr Geliebter hoffentlich am Abend eintreffen würde.
Sie breitete den feinen Stoff vorsichtig über den einzigen Tisch der Hütte aus, damit er schneller trocknen konnte und nicht zerknitterte. Gegen Mittag bestand auch die Möglichkeit, Wäsche draussen zu trocknen, da der Wind dann legte und nicht mehr viel Staub mit sich trug, aber sie wollte heute besonders gut aussehen, wenn Barzin am Abend eintraf und draussen war ihr einfach zuviel Schmutz in der Luft- auch wenn der Wind die Trocknung erheblich beschleunigen würde. Da sie sonst kaum Kleidung besaß, mit der sie in der Oase gesehen werden wollte- mußte sie nun im Haus bleiben, bis der Seidenstoff so trocken war, daß sie die Burka wieder anziehen konnte. Sie hatte noch ihren Stolz und diese wertvolle Robe unterstrich ihren Status an diesem der Tochter eines reichen Kaufmanns eigentlich unwürdigen Ort.
Der Abt lächelte über diesen Stolz und hatte sie auch schon öfters darauf hingewiesen, daß dies ein wesentlicher Grund für ihre Vereinsamung an diesem Ort sei und das Leben hier für sie wesentlich leichter sein könnte, wenn sie sich auch äußerlich nur mehr den anderen Frauen in der Oase anpasste. Parvaanehs Ziel war aber nicht Anpassung oder gar Erleuchtung, sondern nur ein selbst bestimmtes Leben in Würde mit einem bißchen Sicherheit und Wohlstand.
Individualität war für Parvaaneh ein Luxus, dessen Preis sie kannte und zu zahlen bereit war- da konnte der Abt sagen was er wollte, auch wenn er das nicht verstand und derlei Belehrungen schließlich aufgeben mußte. Unterm Strich ging es ihr hier besser als den meisten und es war fraglich, ob sie in einer Stadt wie Buchara jemals glücklicher geworden wäre- selbst mit einem akzeptablen Gatten und Reichtümern, von denen sie nur noch träumen konnte. An diesem abgelegenen Ort war ein Leben mit ihrem gesellschaftlichem Status wahrscheinlich mit weniger Sorgen verbunden als wenn sie in der Stadt als Frau eines angesehenen Kaufmanns den andauernden Machtspielchen und Intrigen ausgesetzt gewesen wäre, die nicht selten tödlich oder totaler Verelendung und Abhängigkeit von Almosen endeten.
Sie hatte das ja am eigenen Schicksl erfahren müssen und zog ihr jetziges Leben -räumlich und sittlich- am Rande der Gesellschaft vor. Woanders würde man eine Frau mit ihrer freizügigen Lebensweise sicher eine Hure nennen, hier respektierten sie zumindest die Anwesenden und sie genoß Freiheiten, welche für eine Frau ihrer Zeit absolut tabu waren.
Dieses Bewußtsein machte Parvaaneh die täglichen Strapazen des eher eintönigen Lebens in der Oase erträglich und sie freute sich auf den bevorstehenden Abend. Draussen legte sich der Wind langsam und die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, ein gleißender Lichtstrahl drang durch die kleinen Glasscheiben des Fensterladens und brach sich in allen Regenbogenfarben auf dem hölzernen Fußboden. Sie zog sich ihr einfaches weißes Hausgewand an und öffnete die Läden um die Sonne herein zu lassen, dsamit ihre Burka schneller trocknen konnte.
Ihr Blick glitt über den nun klaren Horizont und suchte in der Ferne nach ersten Staubwolken der von allen Bewohnern der Oase so sehnlich erwarteten Karawane.