Spinne am Morgen
Im ersten Morgenlicht erwachte Arno aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Er war gewohnt, bei geschlossenem Rolladen in völliger Dunkelheit zu schlafen, hatte aber aber am Abend zuvor vergessen, den Rolladen herunter zu lassen, weil er nach ein paar Dokumentarfilmen und dem langweiligen Freitag-Abend-Spätfilm wohl zu müde war. Nun war er am Samstagmorgen um sechs Uhr wach, obwohl er gerne noch drei Stunden länger geschlafen hätte - wäre nur der Rolladen geschlossen gewesen.
Nun, an Einschlafen war jetzt nicht zu denken, nach mehr als vier Stunden Tiefschlaf fühlte Arno sich hellwach, bemerkte aber erste Anzeichen der Kopfschmerzen, die er immer bekam, wenn er zu wenig geschlafen hatte. Arno fluchte leise mit sich selbst über sein Versäumnis, entschloß sich aber aufzustehen, um mit einem starken Kaffee jeden Rest von Müdigkeit zu tilgen.
Er schaute aus dem Schlafzimmerfenster, wo erste Anzeichen eines sehr kalten, klaren Februartages zu erkennen waren. Reif bedeckte die kleine Rasenfläche vor dem Haus und alle Autos, die in dieser unbedeutenden Seitenstraße parkten. Die Sonne war noch nicht zu sehen, sie war noch weit hinter dem tief verschneiten Hochtaunus am Horizont verborgen.
Die Fenster waren nahe dem korrodiertem Aluminiumrahmen leicht beschlagen, obwohl sie aus gutem Isolierglas bestanden. So bekam Arno eine Vorstellung davon, wie kalt es draussen wohl sein mußte. Als sein Blick über den noch fast schwarzen Himmel glitt - auf dem sich Dank Kälte und schlechter Strassenbeleuchtung eine Vielzahl von Sternen abzeichneten - bemerkte er die Spinne.
Die Spinne hatte Körperbau und Größe einer Kreuzspinne, war aber völlig schwarz und von metallischem Glanz. Sie saß völlig regungslos in der Mitte eines nur etwa zehn Zentimeter großen Netzes, welches sie zwischen Rolladenkasten und Fensterrahmen gebaut hatte. Arno mochte Spinnen nicht allzu sehr- genau genommen ekelte er sich ganz massiv vor ihnen, würde aber energisch protestieren, wenn jemand behauptete, er hätte eine Spinnenphobie. Nein, normalerweise hatte er kein Problem mit einer Spinne in seinem Schlafzimmer. Diese war ja sogar noch recht hübsch anzuschauen. Eine Spinne, die so regungslos in Ihrer Ecke saß, ließ er lieber in Ruhe, denn sie war besser als eine Spinne, die beim Versuch sie zu töten entwischte, um dann irgendwann mitten in der Nacht auf dem Kopfkissen wieder aufzutauchen.
Mit dieser Spinne stimmte dennoch irgendetwas nicht. Sie war zu schwarz und irgendwie unwirklich. Außerdem wurde sein Blick von ihr wesentlich stärker angezogen, als dies bei einer gewöhnlichen Spinne der Fall sein durfte. Irgendwie schien diese Spinne Dunkelheit und Kälte auszustrahlen, sodaß Angst aber auch Faszination den Ekel übertrafen, wenn er sie betrachtete. Ihre totale Regungslosigkeit wirkte unter diesen Umständen eher bedrohlich, hätte aber bei einer normalen Spinne auf Arno eher beruhigend wirken müssen.
Die Spinne schien auch seinem Körper Wärme und Lebenskraft zu entziehen, aber er konnte den Blick trotzdem nicht von ihr lösen. Nein, diese Spinne war gefährlich, eine solche Spezies konnte und durfte weder am Fuße des Taunus noch sonstwo auf dieser Welt existieren. Arno beschloß, sie zu töten. Er nahm all seinen Mut zusammen und griff, ohne den Blick von der Spinne zu lösen, nach einem seiner Pantoffeln, die er trug, seitdem er daß Bett verlassen hatte. Er konzentrierte sich einen kurzen Moment und schlug beherzt zu.
Was nun geschah, war schlimmer als seine schlimmsten Befürchtungen. Nicht, daß er die Spinne verfehlte und er den Rest des viel zu langen Samstagmorgens zum Aufspüren der kleinen Bestie in seinem Schlafzimmer verwenden mußte. Nein, eigentlich sollte er sie voll erwischt haben. Aber irgendwie tauchte sie mitten auf seiner Hand auf, lief über den ganzen Unterarm und war dann verschwunden. Genauer gesagt, hatte er den untrüglichen Eindruck, sie sei an der Armbeuge in seinem Oberarm verschwunden, was man eigentlich bei keiner normalen Spinne erwarten konnte.
Sein Verstand sagte Arno, daß dies nur eine Illusion sein konnte, denn der Arm war unverletzt und auch sonst hatte ihm die Spinne keinen erkennbaren Schaden zugefügt. Jedoch gingen von dem Punkt der Hand, auf dem die Spinne landete, in konzentrischen Kreisen Wellen jener unerklärlichen Kälte aus, die er empfand, seitdem er die Spinne zuerst bemerkte. Wenn er sich recht besann, waren es auch diese Ausstrahlung von Dunkelheit und Kälte, welche Arno erst auf die Spinne aufmerksam gemacht hatten und seinen Blick bannte.
Die eisigen Wellen ließen nur langsam nach und reflektierten in Arno Wellen einer unbestimmten Angst. Um sich zu beruhigen, suchte er systematisch sein Schlafzimmer nach der Spinne ab, fand aber nichts außer ein paar Spinnweben, die auch von dem guten Dutzend anderen Spinnnen stammen konnten, die völlig unbemerkt ihr Quartier in Arno's Schlafzimmer aufgeschlagen hatten.
Die Angst legte sich nur langsam und Arno ging frustriert in die Küche hinunter, um sich mit einem starken Kaffee und einem guten Frühstück zu beruhigen. Offensichtlich war ja nichts passiert und er hatte sich nur grundlos aufgeregt. Vermutlich war er doch noch nicht richtig wach und hatte sich das alles nur eingebildet. Ein sehr starker Kaffee und fetzige Rockmusik würden ihn wohl gleich in die Realität zurück katapultieren.
Er schaltete den Weltempfänger auf dem Küchentisch ein, den er sich mal in einem Duty-Free-Shop in Bangkok gekauft hatte- ein chinesisches Sony- Plagiat, dessen Innenleben keine zehn Euro Wert war, ihn aber 100 Euro gekostet hatte. Er war zuerst noch stolz auf das „Schnäppchen“, das er da gemacht hatte. Als dann nach drei Wochen der Lack abblätterte und er mit diesem „Weltempfänger“ nur den stärksten Lokalsender reinbekam, wurde im klar, daß das „It's a Sony“-Logo auf dem Gerät wohl doch eine Lüge war.
Jedenfalls schaltete er das mittlerweile in völligem Verfall befindliche Gereit ein und es passierte - gar nichts. Noch nicht einmal das athmosphärische Pfeifen, Rauschen und Knistern war zu hören, welches das Gerät sonst nach dem Einschalten von sich gab. Nur ein sanftes 50-Hertz-Brummen und eine hart gegen den Anschlag klickende Feldstärken-Anzeige zeigten an, daß das Billigprodukt wohl zumindest in Betrieb war und mehr als genug Strom für nichts und wieder nichts verbrauchte. Wahrscheinlich hatte es jetzt endgültig den Geist aufgegeben.
Arno fluchte erneut und ging zur Spüle, um Kaffeewasser in die Kanne zu füllen. Als er noch das Wasser laufen ließ, begann das Radio schließlich zu spielen. Die Stille war wohl einfach nur eine kurze Sendepause, die Feldstärken-Anzeige war doch in Ordnung, nur war dem Radio wohl noch nie ein Sender mit einer solch immensen Sendeleistung begegnet.
Was das Radio von sich gab, muß man wohl notgedrungen als Musik bezeichnen- sofern man Musik ganz allgemein als ein beliebiges Ordnungssystem von Klängen, Rhythmik, Melodik und Harmonik begreift. Die Existenz einer solchen Ordnung konnte Arno nicht verleugnen, die Musik hatte aber mit keinem ihm bekannten Musikstil das geringste gemein- und Arno war hinsichtlich seines Musikgeschmacks nicht allzu festgelegt und verschmähte kaum etwas zwischen Klassik, Jazz, Rock und Rap. Lediglich Volksmusik verschmähte er, mit dieser hatte das Getöse aus dem Radio aber nicht das geringste gemein.
An diesem Samstagmorgen stand Arno der Sinn nach gutem alten Hardrock, den der Verkehrsfunksender sonst zu dieser Zeit immer brachte. Nach dem Einschalten der Kaffeemaschine ging Arno zum Radio und versuchte einen anderen Sender einzustellen. Es blieb bei dem Versuch. Wohin er auch drehte, auf allen Frequenzen war nur dieser eine Sender mit den mysteriösen Sphärenklängen zu hören. Es hörte sich so an, als hätte über Nacht irgend ein verrückter New-Age- Guru die Macht übernommen und alle Medien gleichgeschaltet, um sich in akustischer Massenhypnose zu üben.
Die Musik- wenn ich sie schon so nennen muß- ließ sich am ehesten in die New-Age oder Ambient-Techno -Schublade schieben, es war ein Gewaber aus Windharfen, moduliertem Rauschen, schnellen Arpeggios, dumpfen Grollen und schier endlosen Schwebungen. Ein Mischmasch aus Naturklängen und synthetischen Lauten- aber auch nicht so, wie die sonst übliche Synthesizermusik der Techno-Szene, die Arno kannte und gelegentlich auch schätzte. Er fluchte wieder und schaltete das Radio schließlich aus- jetzt wahr aber wohl auch noch der Netzschalter defekt, denn das Radio spielte munter weiter und auch die Lautstärke ließ sich nicht mehr verändern.
Als das Gluckern der Kaffeemaschine aufhörte, ging Arno zur Spüle unter dem Küchenfenster, wo er seine ungespülte Tasse unter einem Berg von Geschirr zu finden hoffte. Zuerst fiel sein Blick aber auf das Küchenfenster bzw. wurde von etwas links über dem Fensterkreuz magisch angezogen. Auf der Fensterscheibe saß die Spinne. Arno konnte sich natürlich nicht sicher sein, daß dies die gleiche Spinne war. Diese hier erschien wesentlich größer, hatte aber den gleichen Körperbau und war ebenfalls völlig schwarz. Andererseits fehlte ihr der metallische Glanz des Exemplars, das er erschlagen wollte. Diese hier war einfach nur so schwarz, wie etwas überhaupt schwarz sein konnte. Die Spinne schien wie ein Scherenschnitt aus ihrer Umgebung herausgeschnitten- als hätte der liebe Gott hier eine Textur vergessen. Eine Sphäre aus Dunkelheit und Kälte umgab sie. Nur deshalb war sich Arno sicher, das dies wirklich DIE Spinne war. Die Vorstellung, daß er mehrere Exemplare dieser unheimlichen Spezies in seinem Haus beheimatete, hätte Arno mittelerweile vollends um den Verstand gebracht. Die Angst, welche diese Spinne bei Ihm auslöste, war ihm aber inzwischen vertraut.
Aber noch etwas war bei dieser Spinne anders. Bei dieser Spinne, die so etwas wie eine negative Lichtquelle war, so daß sie statt Licht Schatten spendete, konnte man keine räumliche Ausdehnung mehr erkennen. Sie bedeckte zwar die Fensterfläche, auf der sie saß, aber außer einem schmalen Farbsaum an den Rändern, der irgendwo zwischen purpur und blaugrün phosphoriszierte, blieb sie nur ein Schattenriss ohne erkennbare Tiefe. Eine dritte Dimension schien für dieses Ding nicht zu existieren. Der Farbsaum pulsierte offenbar im Rhythmus der Musik aus dem Radio. Der beklemmend wabernden Nebelschwaden aus Kälte und Dunkelheit, die von der Spinne ausgingen und in schwarzen Schlieren schon die ganze Küche durchzogen, wurden allmählich unerträglich. Die Spinne verdunkelte die Küche jedenfalls erheblich stärker, als das bei der recht kleinen durch sie abgedeckten Fensterfläche zu erwarten gewesen wäre. Die Spinne schien aber umso größer zu werden, je länger Arno sie betrachtete und je näher er ihr kam.
In Arno baute sich allmählich eine Panik auf, die weitaus schlimmer war als jene, die er im Schlafzimmer empfand. Er mußte dieses Tier -sofern es überhaupt eines war- vernichten, bevor er völlig mit den Nerven am Ende war. Er griff nach einem dicken Kochbuch und schlug es gegen die Fensterscheibe. Er schlug mit voller Kraft zu und konnte das Tier oder Ding eigentlich überhaupt nicht verfehlen. Er mußte freilich befürchten, daß die Fensterscheibe zu Bruch ging, was im klirrend kalten Februar sicher kein Spaß gewesen wäre.
Nichts von dem, was er erwartete, passierte. Als das Buch mit einem dumpfen Schlag auf der Fensterscheibe prallte, begannen sich stattdessen die Umrisse der Spinne auf seiner Hand abzuzeichnen. Mitten in Arnos Hand gab es nur noch Schwärze, abgesehen vom Aufflackern des Saums, dessen Farbe jetzt bis hin zu Orangetönen und Goldgelb variierte. Arno verspürte keinen Schmerz von dem Loch in seiner Hand, aber ein Nebel aus Dunkelheit und Kälte breitete sich mit noch nie gekannter Intensität in ihm und um ihn herum aus. Lautstärke und Taktrate der Musik aus dem Radio steigerten sich dabei bis ins Unerträgliche. Die Musik schien auch nicht mehr vom Radio, sondern irgendowoher aus Arno selbst zu kommen.
Völlig in Panik, ließ Arno das Buch fallen, daß in die Spüle fiel und einige ungespülte Teller und Tassen zerschlug. Mit schmerzverzerrtem Gesicht betrachtete er seine Hand- obschon er eigentlich gar keinen Schmerz verspürte. Er spürte nur eine leichte Benommenheit und Schwäche. Die Hand war auch völlig in Ordnung, es war auch keine Spur der Spinne mehr auf ihr zu entdecken.
Die Spinne saß unverändert noch an der gleichen Stelle der Scheibe. Sie wahr wohl in keiner Weise real, sondern nur Arnos Hirngespinst oder allenfalls eine Projektion von irgend Etwas. Eine Art Hologramm, das nicht Licht darstellt, sondern Schatten und sich von Licht und Wärme seiner Umgebung ernährt. Vielleicht war dies nur eine Art optischer Täuschung oder ein merkwürdiger Fall von Fluoreszenz, bei der Licht in Radiowellen umgewandelt und auf absurde Weise moduliert wird. Sie war aber auf keinem Fall ein Gebilde, das in Arnos Welt gehörte- sie erschien eher dem Labor eines experientellen Mathematikers entsprungen- wenn's denn so etwas überhaupt gäbe- kurzum ein Widerspruch in sich.
Jetzt löste diese Spinne aufgrund ihrer Abstraktheit und Irrealität keinen Ekel mehr aus, sondern war von der von ihr ausgehenden bedrohlichen Dunkelheit und Kälte einmal abgesehen einfach nur noch faszinierend. Als Arnos Angst wieder etwas nachließ, und er sich nur mit einem physikalischen oder vielleicht auch spirituellen Phänomen ohne offensichtliche Gefahr konfrontiert sah, betrachtete er die Spinne genauer. Ja, er holte sogar die Leselupe aus dem Küchentisch, kletterte auf die Spüle und hielt die Lupe dicht vor die Fensterscheibe, auf der die Spinne immer noch bewegungslos saß und rhythmisch zur Musik pulsierte. Zumindest als psychedelischer Partygag wäre sie eine Sensation, wenn sie etwas weniger Kälte absondern würde- aber vielleicht könnte man sie noch als Getränkekühler einsetzen.
Auch mit der Lupe konnte Arno innerhalb des Spinnen-Umrisses nur totale Schwärze erkennen. Der Farbsaum war freilich interessanter. Was ohne Lupe nur an die Korona der Sonne bei einer Sonnenfinsternis erinnerte, ließ nun Regelmäßigkeiten und eine nur auf den ersten Blick verwirrend hohe Komplexität erkennen. Dies waren fraktale Muster - wie bei der populären Mandelbrot-Menge (Apfelmännchen) tauchte die Grundform der immer gleichen Spinne auch in den feinsten Verästelungen immer wieder auf. Was auch immer dies hier war, es konnte sich bei diesem abstraktem Gebilde wohl kaum um das Tier handeln, welches er zu früher Morgenstunde erschlagen wollte. Und es war weder ekelhaft noch schien es gefährlich, noch konnte man es verletzen, selbst wenn die Form unbestreitbar der Spinne aus dem Schlafzimmer sehr ähnelte. An dieMusik konnte man sich gewöhnen- sie war wenigstens nicht so einfallslos wie die langweiligen Pop-Acts, die das Radio normalerweise dudelte, selbst wenn sie möglicherweise nur einem Spinnengehirn entstammten.
Beunruhigend war höchstens, daß das Phänomen sich weiter ausbreitete, je länger er in dessen Nähe verweilte. Auch die Form erinnerte immer weniger an eine Spinne, weil sie sich die Form in immer filigraneren Verästelungen auflöste, je näher er dem Ding kam. Die Musik, die Arno hörte steigerte sich im Tempo und strebte wohl unaufhörlich einem großen Finale zu. Das alles behinderte nicht Arnos neu erweckten Forscherdrang und er ging mit einem Buttermesser aus der Spüle auf das Objekt los. Nicht das er es verletzen wollte- wie soll man denn ein Phänomen, eine Projektion eines Was-Auch-Immer oder ein Schatten gewordenes Rechenmodell aus einem Computer auch verletzen können? Um das Objekt mit den bloßen Fingern zu berühren, fehlte ihm freilich immer noch der Mut- ihm reichte die eiskalte Erfahrung mit seiner Hand.
Das Messer tauchte in das Objekt ein, ohne daß Arno den Widerstand der eigentlich an dieser Stelle wohl immer noch vorhandenen Fensterscheibe spüren konnte. Das Objekt vergrößerte lediglich seine Fläche etwas, als das Messer eindrang, ohne wie zu erwarten gewesen wäre, auf der Außenseite des Fensters wieder zum Vorschein zu kommen. Als Arno das Messer wieder herauszog, war es aber völlig unbeschädigt und das Objekt verkleinerte seine Fläche wieder auf die ursprüngliche, aber mittlerweile trotzdem beachtliche Größe. Das nun mit Reif bedeckte Messer fühlte sich nun aber so extrem kalt an, daß Arno aufschrieh und es in die Spüle krachen ließ, wo es den letzten Rest des noch bedingt brauchbaren Geschirrs auch noch zerstörte.
Durch seine Neugier bemerkte Arno nicht mehr, wie intensiv und lange er der von dem Objekt ausgehenden extremen Kälte ausgesetzt war. Die eisige Luft schmerzte beim Einatmen und beim Ausatmen schien die Luft knisternd direkt zu Eiskristallen zu gefrieren. Bei all der Dunkelheit die ihn jetzt umgab, wußte er nicht, für wieviel davon das Objekt durch seinen Hunger nach Licht und Wärme verantwortlich war und wie sehr seine Konstitution bereits durch Kälte und Stress angegriffen war. Als er sich dessen bewußt wurde, war es bereits zu spät. Als ihm die Kräfte schwanden, fiel er vornüber gegen die Fensterscheibe genau auf das seltsame Objekt, dessen Form nur noch entfernt an eine große Spinne erinnerte, welche sich weit über die Fensterfläche ausdehnte, während er hindurch in ein Nichts ohne Tiefe fiel. Er hörte noch so etwas wie einen Schlußakkord der inzwischen völlig zu einer irren Kakophonie gewandelten Musik aus dem Radio, bevor ihn völlige Dunkelheit umgab und er schlußendlich auch die Kälte nicht mehr spürte.
Arno erwachte durch ein leichtes Kribbeln oberhalb der linken Wange. Als er die Augen öffnete, schauten ihn die acht Augen einer kleinen Kreuzspinne an, die wohl ihr Netz am Schlafzimmerfenster verlassen hatte, um die Nachbarschaft zu erforschen. Obwohl die reale Erfahrung einer Spinne mitten im Gesicht Arno sicherlich alles andere als angenehm war, war er dem Krabbeltier irgendwie dankbar, daß es diesen merkwürdigen Traum so sanft beendet hatte und er nicht das Opfer irgendeiner als kleine Spinne getarnten Raumzeit- Instabilität geworden war. So schlug er nicht nach dem vor Angst erstarrtem Tierchen, sondern brachte es vorsichtig zur Fensterbank, wo es schnell hinter der nächstliegenden Gardine verschwand.
Dies war ein schöner, sonniger, frostiger Samstagmorgen im Februar. Der Wecker zeigte kurz nach neun Uhr und er ging erstmal in die Küche, um sich einen extra starken Kaffee zu kochen. Am Küchenfenster saß keine Spinne oder sonst irgendwas außergewöhnliches, der „Weltempfänger“ quittierte das Einschalten mit beruhigendem athmosphärischem Rauschen und nach viel Gefummel und deftigen Flüchen auf chinesische Ingenieurskunst stellte er den Verkehrssender ein, wo gerade ein Stück von Motörhead dröhnte und die Welt für Arno nun völlig in Ordnung und frei von mystischen Phänomenen und mentalen Herausforderungen war.
Wenn da nur nicht die entsetzliche Kälte, das zerbrochene Küchenfenster und das viele kaputte, von einer dicken Reifschicht überzogene Geschirr und das zu einem Eisklumpen gefrorene Kochbuch in der Spüle gewesen wären. Aber zu Arnos Beruhigung lag in all dem Chaos auch die leere Whisky-Flasche, mit deren Inhalt er versucht hatte, die Langeweile des gestrigen Fernsehabends zu ertränken. Vielleicht sollte er besser mit dem Trinken aufhören oder populärwissenschaftliche Sendungen im Discovery Channel meiden- zumindestens aber künftig die offenbar schädliche Kombination von beidem ausschließen.